Ein Interview mit Armand Gatti
Kürzlich wurde in Kassel das Stück „La Naissance“ (Die Geburt) des französischen Dramatikers Armand Gatti für Deutschland erstaufgeführt Der fünfundvierzigjährige Autor, der kämpferischen Linken angehörend, wollte mit diesem Stück nicht nur auf die Zustände in Guatemala aufmerksam machen, sondern auch zu Solidarisierungsaktionen veranlassen. Als Erfolg der Kassler Aufführung hat jetzt die Humanistische Hochschulunion (HSU) auf einer Pressekonferenz in Frankfurt eine bundesweite Guatemala-Kampagne gemeinsam mit anderen Hochschulgruppen angekündigt: die „Befreiungsfront in Guatemala“ soll „durch Aktionen konkret unterstützt“ werden. Die ARD zeigte in dieser Woche Gattis „Das imaginäre Leben des Straßenkehrers Auguste G.“.
Was leistet die Aufführung eines Stücks über den guatemaltekischen Befreiungskampf im Staatstheater Kassel?
ARMAND GATTI: Ich wollte vom gedanklichen Raum des Deutschen ausgehen, der sich diese Vorstellung anschauen wird. Ich wollte das Stück aus all dem, was diesen Deutschen umgibt, entstehen lassen. Ich habe gesucht, wo für diesen Deutschen Guatemala existiert. Ich habe gesehen, daß das zu nichts führt, weil die Deutschen nichts von Guatemala wissen, obwohl in Guatemala die Bundesrepublik Deutschland nach den USA am meisten Handel treibt. Die deutsche Industrie hat sich schon in der Umgangssprache festgesetzt: „mausetot“ heißt „tot bis zu Töpe“ nach der Stahlfabrik, deren Namen dicht am Heft auf der Klinge der Macheten eingraviert ist, die sie nach Guatemala exportiert. Aber die bürgerliche Presse berichtet entweder gar nicht über Guatemala, oder sie deformiert die Guerilleros zu solchen Monstren, zu so abscheulichen Gebilden, daß sie auf der Bühne absolut unerträglich wären und man von etwas ganz anderem sprechen müßte als von der Guerilla und dem Kampf der F.A.R. ( fuerzas armadas rebeldes) gegen den US-Imperialismus. Jene Zeitungen, die als Paravents auf der Szene stehen, blockieren die Figuren derart, daß eigentlich die Zeitungen die Figuren sind, weil diese viel mehr die Wirklichkeit der Presse als ihre eigene haben. Diese Wirklichkeit der Presse könnte ebenso an Hand der Berichterstattung über Studenten oder über den Kampf des vietnamesischen Volkes aufgedeckt werden.
Hat das Theater außer diesem langen Marsch durch die Strukturen auch eine Chance, außerhalb des Systems zu agieren?
GATTI: Um mit dem Theater militante Funktionen zu übernehmen, muß man eine kleine Truppe haben, die politisch bewußt ist und gemeinsam kämpft, die keine Subventionen verlangt oder erwartet, und dabei stößt man auf ein ungeheures Problem: „Comment vivre?“ Wir haben so eine Truppe, Le groupe, die auf der experimenta im Karmeliterkloster „Das Verbot des ‚General Franco‘“ in Frankreich spielte. In Paris wurden diese Genossen von der Regierung genauso bekämpft wie von der Kommunistischen Partei. Wir müssen völlig aus der Zirkulation des Geldes herauskommen. In Frankreich werden alle Zuschüsse entweder vom Staat oder von der KP kontrolliert. In dieser repressiven Situation müssen wir auf Subventionen von oben verzichten und die Finanzierung aus der Basis schaffen, durch Spenden, durch Eintrittsgeld, durch eine andere Arbeit innerhalb des Systems. Dann muß ich eben von 8 bis 5 Uhr blödsinnige Texte übersetzen, damit ich von 5 bis 12 Uhr probieren kann. Dafür habe ich dann maximale Chancen für die Agitation.
Kann Agitationstheater den direkten Kampf vorantreiben?
GATTI: Was ich jetzt sage, scheint weit hergeholt, aber von der Idee her, in einem anderen Kontext natürlich, ist es ein zulässiger Vergleich mit einem konkreten Sinn: das Theater der Vietnamesen. Ihre Stücke haben eine direkte Funktion in dem Kampf, der geführt werden muß. Das Theater ist in die Guerilla-Strategie integriert. Dafür gibt es ein außerordentliches Beispiel: Zur Zeit der Wehrdörfer, als die Amerikaner alle Bauern eingeschlossen hatten, ging eine Theatergruppe in die Wehrdörfer hinein. Das Stück war konzipiert aus Symbolen und Anspielungen, die die Bauern verstehen lehrten, wie der Kampf geführt werden muß. An einem Abend haben die Bauern die verschlüsselte Botschaft, das Zeichensystem, mehr als gut verstanden: Am nächsten Morgen haben sie die strategischen Punkte des Dorfes angegriffen und niedergemacht. Das Theater ging direkt in den bewaffneten Kampf über. Hier stellt sich das Problem natürlich anders. Wir stehen im Kontext der Repression, der sich von dem des direkten Kampfes unterscheidet. Es ist ein Kampf zweiten Grades. Der politische Kampf hat zwar begonnen, aber es geht nicht um Krieg, nicht um Waffen, es geht noch nicht um all das.
Wie könnte „La Naissance“ auf einer Bühne des Landes ablaufen, um dessen Probleme es direkt geht?
GATTI: Es ist unmöglich, „La Naissance“ in Guatemala aufzuführen, es würde sofort geschossen. Alle Sätze, die hier leicht eingehen, weil keine revolutionäre Situation gegeben ist, provozieren dort blutige Kämpfe. Die Realität potenziert das Stück fünfzig- oder hundertfach. Wir können uns hier das Ausmaß der Repression dort kaum vorstellen. In Guatemala Ciudad darf kein Privatwagen schneller als 30 km/h fahren, da täglich Attentate vom Auto aus verübt werden. Die Polizei schießt sofort auf Autos, die sich nicht an diese Vorschrift halten.
Ich habe auch in keiner deutschen Zeitung gelesen, daß Guatemala seit Wochen kein Fernsehen hat, weil während der Rede Rockefellers die Sendeanlagen in die Luft gejagt wurden. Für die Theater ist es in dieser Situation schon revolutionär, Beckett, Ionesco oder Arrabal zu spielen, das heißt, die Bourgeosie von innen anzugreifen.
Schreiben guatemaltekische Schriftsteller auch für die Klasse, die sich im Theater so bequem angreifen läßt wie sonst nirgendwo?
GATTI: Da achtzig Prozent der Einwohner Analphabeten sind und die Indios gar nicht Spanisch sprechen, gibt es den „Schriftsteller“ dort überhaupt nicht. Schriftsteller, die ich kenne, sind unter die guerillas gegangen. Und das ist ein großes Problem, die Indios schreiben nicht, sie singen nicht, sie erzählen nicht. Sie spielen. Die einzige Tradition ist ihre dramatische Tradition. Und ihr einziges Mittel im Kampf ist die theatralische Aktion. Ich habe nie begriffen, warum sie spontan anfangen auf der Straße zu spielen – mit Masken, mit Federn, wenn auch sehr ärmlich.
Alte Zeremonien?
GATTI: Nein. Einige tragen die Köpfe von spanischen Eroberern, von Napoleon, von Johnson. Warum wohl? Ich bin sicher, daß dort etwas ganz Neues entstehen wird. Eine Generation revolutionärer Dichter, keine Dichter, die schreiben, keine engagierten Dichter, die Stücke erfinden, revolutionäre Spiele ... ohne die Deformation durch die kulturelle oder literarische Tradition. Aus der indianischen Stufe direkt in etwas sehr viel weiter Entwickeltes. In ein revolutionäres Stadium, frei von allen Zwängen, die Herrschaftssysteme, durch die wir gegangen sind, in unsere Form des Denkens geprägt haben.
Können wir etwas von dieser Dramaturgie der Indios übernehmen?
GATTI: Das glaube ich nicht. Wir hängen zu sehr in unserer Sprache, in unserem Kontext, der international immer einheitlicher wird. So etwas muß aus einer Notwendigkeit heraus entstehen. Die Indios können sich nur so und nicht anders ausdrücken. Transponiert werden solche Formen zu avantgardistischem Luxus.
Dann wird diese Dramaturgie nie einen Einfluß auf unsere Form des Theaters haben?
GATTI: Das hängt von einem Zustand ihrer Notwendigkeit ab. Sie wird wichtig, sobald vergleichbare Bedürfnisse da sind. Ohne daß ich mir dessen bewußt war, hat mich das chinesische Theater sehr beeinflußt. Meine ersten Stücke waren, wenn auch nicht vom chinesischen Theater, so doch von der Art, in der ich es verstanden habe, gekennzeichnet. Gleichzeitig haben mein Milieu, die Kämpfe in meinem Milieu meine Schreibweise verändert. Aber am Anfang war das chinesische Theater, obgleich ich kein Chinese bin, nur Tourist in der Kultur Chinas war. Trotzdem spürte ich eine Notwendigkeit, mich der Form des chinesischen Theaters anzunähern, vor allem, mich in seinem Sinne auszusprechen. Ich denke, das geschieht in dem Maße, wie man eine Notwendigkeit als ein Bedürfnis begreift, und man kommt schließlich über diesen Umweg sehr viel weiter und sehr viel tiefer in unsere eigene Wahrheit.
Wie konnte diese Form des chinesischen Theaters aus konkreten Bedürfnissen entstehen?
GATTI: Wenn die Arbeiter dort Probleme hatten, untereinander, mit der Direktion, mit der Gewerkschaft, spielten sie ein Stück darüber. Die Direktion, die Kader, die Gewerkschaftsführer, alle, die mitbetroffen waren, haben das Stück gesehen und sofort darüber debattiert. Natürlich nicht über das Stück, sondern über die Probleme.
War das arrangiert oder improvisiert?
GATTI: Arrangiert. Man muß die Darstellung seiner eigenen Probleme sehr genau kontrollieren.
War das vor oder in der Kulturrevolution?
GATTI: Vorher; die Kulturrevolution hatte längst begonnen. Es war die Geburt der Kommunen, die Bauern bauten die zerstörten Dörfer wieder auf. In den Fabriken überall „Minitheater“. Da liegt die Chance, aus dem Theater etwas zu machen, was es wieder für den politischen Kampf legitimiert. In der Gleichzeitigkeit. Wenn mich etwas am Theater interessiert, dann, es gleichzeitig mit den politischen Ereignissen zu machen.
Also eine Dramaturgie der Gleichzeitigkeit, nicht mehr eine Dramaturgie dieser oder jener ästhetischen Form?
GATTI: Im direkten Kampf gibt es die direkte Antwort: das Flugblatt, das Plakat, die Parole, die Demonstration und mehr. Aber wie reagiert das Theater? Wir spielten das Stück über „Das Verbot des ‚General Franco‘“ in Frankreich. Erste Vorstellung: Es ging so. Zweite Vorstellung: Sehr, sehr gut. Dritte Vorstellung: de Gaulle tritt zurück. Mit allem hatten wir gerechnet, sogar mit Francos Tod, wie wir dann spielen würden – nur nicht mit dem Rücktritt de Gaulles. Was sollten wir machen? Unsere Wirklichkeit mußte die Wirklichkeit erst wieder einholen.
Wir haben in Beifort einen Versuch des Arbeitertheaters unternommen. Einer aus unserem Team ging zu den Arbeitern nach Belfort, um bei ihnen zu arbeiten, bis sie ihr Stück selbst schreiben und spielen könnten.
Wie sieht der Text dieses Stückes aus?
GATTI: Ich würde nicht wagen, so etwas zu schreiben. Das sind die Bedingungen, unter denen Arbeiter leben. Keine Chronologie, nicht die Spur. Die älteren haben den Streik von 1936 beschrieben. Und die jungen haben geschrieben: Ein Arbeiter während des Pariser Mai 1968.
Wird sich diese Art Theater verbreiten?
GATTI: Für uns, für Leute, die von Arbeitern und Studenten sprechen, bedeutet dieser Versuch, dafür zu arbeiten, daß Studenten in die Fabriken gehen, um dort zu arbeiten und zu spielen, daß Arbeiter in die Universitäten gehen, um dort zu arbeiten und zu spielen, daß sie in den Schulen spielen, daß sie überall spielen, damit ein Dialog entsteht. Auf der Grundlage einer gemeinsamen Arbeit, gemeinsamer Interessen beginnt die Solidarität. Ob die Arbeit eine politische Demonstration ist oder eine theatralische – dieser Unterschied existiert dann nicht mehr.
Haben wir noch kein Straßentheater, weil uns diese Grundlage fehlt?
GATTI: Viel eher als eine konkrete Wirklichkeit ist das Straßentheater ein Bild, ein Denken in Bildern, das eine Gesellschaftstheorie impliziert. In der Architektur der Straße zu spielen, erforderte bereits ein sehr viel fortgeschritteneres Stadium des Aufstands der Massen, als es hier erreicht ist, ein Stadium, das dem Sozialismus sehr viel näher ist, eine sozialistische Optik, in der nicht mehr die Polizei die Spielbedingungen diktiert. In Paris ist es zum Beispiel zur Zeit nicht möglich, auf der Straße zu spielen. Paris ist fest im Griff der Polizei.
Gibt es Beispiele für Straßentheater in Lateinamerika?
GATTI: In Santiago de Cuba hatten sich um elf Uhr morgens Hunderttausende Menschen versammelt, um Fidel Castro sprechen zu hören. Castro erschien nicht, niemand wußte, wo er war. Die Leute warteten, die Sonne, der Rum, sie warteten, in der dichten Menge verbreitete sich rasch eine vitale Erregung, die auch Zurückhaltende erfaßte. Um 13 Uhr näherte sich von weit hinten langsam eine Planierraupe und schob sich durch die tobende Menge auf die Mauer einer alten Kaserne zu. Auf dem Fahrersitz Fidel Castro, Zigarre, ohne eine Miene zu verziehen. Die Rede dauerte bis siebzehn Uhr: Im Lärm der Motoren der Raupe und der Begeisterung der Menge hatte Castro ohne Pause die Mauer der Kaserne niedergewalzt, und zwar an dem Platz, wo eine neue Schule gebaut werden sollte.
Hierzulande wird sich niemand für so ein Stück finden.
GATTI: Weil hier verschiedene Klassen verschiedene Arbeit verrichten. Weil hier Arbeiter eine Sprache sprechen und Studenten eine andere. Weil diese eine Kampfform entwickeln, die nicht die der anderen sein kann. Um die Basis für eine gemeinsame Arbeit und für den gemeinsamen Kampf vorzubereiten, gibt es für den Autor eine Arbeit, die politisch gerechtfertigt ist: die „mini-pieces“.
Was unterscheidet ein „mini-pièce“ von einem Bühnenstück?
GATTI: Es hat sehr wenige Rollen und kann überall gespielt werden. Es hat eine völlig neue Ästhetik, einen neuen Stil, eine neue Art, Theater zu sein. Aus dem totalen Fehlen aller Mittel konstituiert sich die Ästhetik. Die „mini-pièces“ haben keinen Autor, weil sie immer mehr von den Spielenden und ihrem Kontext erfunden werden: Le groupe Utopie présente „Das Verbot des ‚General Franco‘“. Es gibt keinen Verlag, keine Tantiemen, ich gebe diese Stücke nur an militante Gruppen.