Vorwort

von Sigrid Jacobeit

„Es ist vollbracht.“ Vor uns liegt das Werk eines Menschen für Menschen. Ein Lebenswerk, das einen Lebensabschnitt des Autors mit Höhen und Tiefen in Anspruch nahm und gerade deshalb oder dennoch geschaffen wurde. Das Opus gleicht einem Denkmal, es ist eine Denkmalsetzung. Es möchte 1100 Frauen ein Denkmal setzen, an deren Leben und Lebensstationen erinnern. Dabei handelt es sich um Frauen mit einem außergewöhnlichen Leben, um Frauen, die in ihrer Jugendzeit aus ihren Leben herausgerissen, zusammengepfercht und deportiert wurden. Ziel der Deportation war das Frauen-Konzentrationslager Ravensbrück, das Weggesperrtsein als Untermenschen in einer herrlichen Landschaft, gepeinigt von Aufseherinnen und SS-Männern, die sich als Übermenschen fühlten. Ziel der Deportation war zugleich der Einsatz zur Kriegsarbeit. Helmuth Bauer hat sich von Anfang an für jene Frauen besonders interessiert, die als KZ-Häftlinge von der Firma Daimler-Benz zur Zwangsarbeit in Genshagen eingesetzt wurden und deren Zahl nun am Ende des Forschungsprojektes mit 1100 beziffert werden kann. Ausgangspunkt der Recherchen war der Fund des vergessenen „Album Déportation“, in dem die jüdische Ungarin Edit Bán Kiss ihre inneren Bilder aus Deportation und Zwangsarbeit unmittelbar nach Kriegsende in 30 Gouachen festgehalten hat. Dieses Vorwort für das nun vollbrachte Opus zu schreiben ist mir eine besondere Freude.

Ich habe Herrn Dr. Helmuth Bauer im Rahmen meiner Tätigkeit als Leiterin der Mahn- und Gedenkstätte Ravensbrück/Stiftung Brandenburgische Gedenkstätten (Dezember 1992 bis Mai 2005) kennengelernt. Er mühte sich engagiert recherchierend um die Frauen-Häftlinge, die im Oktober 1944 aus dem Konzentrationslager Ravensbrück in das KZ-Außenlager Genshagen bei Ludwigsfelde gebracht wurden, um dort vorrangig zur Montage von Flugzeugmotoren eingesetzt zu werden. Es waren vor allem Frauen aus Ungarn, Polen, Frankreich, Russland, der Ukraine und Deutschland. Bei den Ungarinnen handelte es sich um Jüdinnen, die in jenen Monaten zu Tausenden aus Budapest nach Mauthausen, Dachau und Ravensbrück verschleppt wurden, bei den polnischen Frauen um jene, die bei der Niederschlagung des Warschauer Aufstands vom August und Sep- tember 1944 nach Ravensbrück deportiert wurden. Ihre Namen waren bis zum Beginn der Forschungen von Helmuth Bauer ebenso unbekannt wie die genauen Angaben zu den Transporten vom Heimatland nach Ravensbrück, zum Aufenthalt im KZ Ravensbrück, den Transporten und Ankünften in Genshagen. Gleiches gilt für die Zwangsarbeit in Genshagen selbst, für die Geschichte des nationalsozialistischen Kriegsmusterbetriebs „Daimler-Benz-Motoren GmbH Genshagen“, des größten Kriegswerks von Daimler-Benz, für die dortigen Arbeits- und Lebensbedingungen, das produzierte Kriegsmaterial wie auch für das bewachende, antreibende und bestrafende SS- und zivile Daimler-Personal. Kaum eine der Lebensgeschichten der Genshagenerinnen war bekannt. Eine der Ausnahmen bildeten Aufzeichnungen über und von Friedel Malter, einer deutschen Kommunistin, die vor ihrer Strafversetzung nach Genshagen in Oranienburg im Außenlager Auerwerke des Konzentrationslagers Sachsenhausen eingesetzt war.

Dem leidenschaftlich und hartnäckig forschenden Wissenschaftler, der in jüngeren Jahren als Maschinenschlosser im Stuttgarter Daimler-Werk Untertürkheim gearbeitet hatte, gelang es, von Jahr zu Jahr mehr Namen von Genshagener Zwangsarbeiterinnen zu finden. Die Spurensuche quer durch Europa erfolgte beinahe parallel zur sich verbessernden Quellenlage in der Mahn- und Gedenkstätte Ravensbrück. Umfangreiche Recherchen und digitale Erfassungen von Transport-, Überstellungs- und Ankunftslisten, von immer mehr Vor- und Familiennamen, Geburtsdaten sowie Häftlingsnummern, die im Zusammenhang mit der Erarbeitung eines Gedenkbuches für die Toten des KZ Ravensbrück ab 1993 standen, kamen dem Projekt „Außenlager Genshagen“ entgegen. Hinzu kamen die Hinweise von inzwischen gefundenen Frauen des Außenlagers, die nicht nur in Ungarn, Polen, Frankreich, der Ukraine, Jugoslawien und Deutschland lebten, sondern auch in London, wie beispielsweise die ungarische Jüdin Éva Fejér. Die Recherchen wurden zu Mosaiksteinen, die Helmuth Bauer zusammensetzte, und sie wurden zu Begegnungen – Begegnungen von Überlebenden und Wissenschaftlern, Begegnungen von Generationen, Begegnungen von ehemaligen KZ- Häftlingen und Mitarbeitern der Unternehmensleitung der Daimler-Benz AG zur Frage der „Entschädigung“ von Zwangsarbeit.

All diese Recherchen und Begegnungen habe ich mit Nachdruck und gegen manche Schwierigkeiten intensiv unterstützt. Sichtbarer Ausdruck waren nicht nur die immer größer werdenden Begegnungen, wie beispielsweise zu Jahrestagen der Befreiung des KZ Ravensbrück, es waren Ausstellungen und Veranstaltungen zu besonderen Höhepunkten in der Arbeit der Mahn- und Gedenkstätte Ravensbrück. Hierzu zählte unter anderem die zwei Jahre lang als umfangreiche Sonderausstellung gezeigte Präsentation "'Wir waren ja Niemand.‘ Häftlinge des Frauen-Konzentrationslagers Ravensbrück – Zwangsarbeit bei Daimler-Benz“, deren wissenschaftliche Dokumentation Helmuth Bauer ausführte und die von der Daimler-Benz AG finanziert wurde. An der Eröffnung der Ausstellung nahmen auf Einladung von Daimler-Benz zwanzig ehemalige Zwangsarbeiterinnen aus Ungarn, Polen, England, der Slowakei und Deutschland teil. Als weiteres besonderes Ereignis wurde am 26. Oktober 2002 der 80. Geburtstag der in Budapest lebenden „Genshagenerin“ Ágnes Bartha auf ihren Wunsch hin in der Mahn- und Gedenkstätte Ravensbrück gefeiert. Zu den Gratulanten zählten neben einer großen Gruppe Jugendlicher aus Ungarn auch Schüler aus Berlin, Bürgerinnen und Bürger aus Fürstenberg, Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Gedenkstätte sowie der anliegenden Internationalen Jugendbegegnungsstätte Ravensbrück. Als Präsent überreichten wir, die Gedenkstättenmitarbeiterinnen und -mitarbeiter, der ehemaligen Häftlingsfrau eine große rechteckige Torte mit 80 brennenden Kerzen.

Parallel zur Spurensuche im Rahmen der Forschungen und den immer häufiger werdenden Begegnungen entwickelte sich die Genshagen- oder auch Bauer-Projekt genannte Arbeit zu einem pädagogischen Projekt. Von Anbeginn seiner Recherchen ließ Helmuth Bauer jedes Wiedersehen, die Gespräche, Interviews und Begegnungen mit der Filmkamera professionell begleiten. Er selbst führte Interviews durch, bezog in diese verantwortungsvolle Aufgabe aber zunehmend auch Schülerinnen und Schüler ein. Bestandteil des pädagogischen Konzeptes waren somit gegenseitige Besuche und Befragungen, aber auch gemeinsames Gedenken an unterschiedlichen Deportationsorten sowie in Genshagen selbst. Als Ergebnisse liegen wertvolle pädagogische Materialien und Filme vor, entwickelten sich Freundschaften zwischen Schülern und Genshagenerinnen, von denen einige bis heute andauern.

Das nun vorliegende Werk basiert auf einer Vielzahl unterschiedlichster Quellen und Zeugnisse. Die eine Quelle ist so kostbar wie die andere. Dies gilt für alle original gefundenen und herbeigeschafften wie für die selbst produzierten. Beinahe auf keinen dieser Mosaiksteine der Deportationsgeschichten, aber auch der Kriegsproduktion, wollte der Autor verzichten. Er will sie zeigen, um auf diese Weise zum einen sein methodisch-wissenschaftliches Vorgehen abzubilden. Zum anderen möchte er seine individuelle Annäherung und gewachsene Verbundenheit zu jenen Frauen dokumentieren, denen der Band einen besonderen Platz einräumt. Dieses Anliegen ist uneingeschränkt nachvollziehbar, liegt doch jetzt ein Lebenswerk des Helmuth Bauer vor, das einen zwanzigjährigen Abschnitt seines eigenen Lebens widerspiegelt. Jedes aufgespürte Foto, jedes Dokument, jeder Brief der Frauen, jede der Gouachen und Ölbilder von Edit Kiss sind Teil der persönlichen Geschichte. Die Texte lassen die Emotionalität spüren; das darf hier sein. Denn es handelt sich in seiner inhaltlichen Konzeption wie im Hinblick auf die eindrucksvollen Abbildungen um ein einzigartiges Werk, das nicht nur die Forschungen zur KZ-, Unternehmens- und Zwangsarbeitergeschichte bereichert. „Innere Bilder wird man nicht los – Die Frauen im KZ-Außenlager Daimler- Benz-Genshagen“ setzt gleichsam eine Zäsur innerhalb der Biografie-Forschungen.

Es sei mir erlaubt, Helmuth Bauer zu dem vollbrachten Werk zu beglückwünschen, das eine große Bereicherung für die Geschichts- und Sozialwissenschaften wie für die Literatur- und Filmwissenschaften darstellt. Ihm ist ein herausragendes Ergebnis wissenschaftlicher Leidenschaft, menschlicher Begegnungen und literarischer Denkmalsetzung gelungen.

Fürstenberg/Havel, im Herbst 2010